
Historischer Hintergrund
Die Ursachen der Vertreibungen

1. Einleitung
Nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten die Alliierten und die Sowjetunion einen neuen Grenzverlauf. Deutschland verlor seine östlichen Gebiete, welche größtenteils Polen übernahm. Ein großer Teil des östlichen Territoriums Polens aus der Vorkriegszeit fiel der Sowjetunion zu[1]. Was diese Grenzverschiebung besonders machte, war, dass sie zu der größten Bevölkerungsbewegung in der kürzesten Zeitspanne der modernen Geschichte führte. „Am Ende des Ersten Weltkriegs wurden Grenzen erfunden und angepasst, während die Menschen im Großen und Ganzen an Ort und Stelle blieben. Nach 1945 geschah eher das Gegenteil: Mit einer großen Ausnahme blieben die Grenzen im Großen und Ganzen intakt, und die Menschen wurden stattdessen umgesiedelt. Unter den westlichen Politikern herrschte das Gefühl, dass der Völkerbund und die Minderheitenklauseln in den Versailler Verträgen gescheitert waren und dass es ein Fehler wäre, auch nur zu versuchen, sie wiederzubeleben. Aus diesem Grund stimmten sie den Bevölkerungstransfers bereitwillig zu. Wenn den überlebenden Minderheiten in Mittel- und Osteuropa kein wirksamer internationaler Schutz gewährt werden konnte, dann war es nur recht und billig, sie an Orte zu verfrachten, die ihnen entgegenkamen. Den Begriff „ethnische Säuberung“ gab es noch nicht, aber die Realität schon - und sie war weit davon entfernt, allgemeine Missbilligung oder Verlegenheit hervorzurufen.“ Die von den Siegermächten entschiedene Völkerumsiedlung, an der unsere Familie so wie tausende weitere gezwungen waren teilzunehmen, sollte durch die entstehende nationale Homogenisierung eine langanhaltende Sicherheit und Stabilität in Zentraleuropa erschaffen[2].

2. Mitteleuropa nach 1918
Nach dem Ersten Weltkrieg beschlossen die drei Siegermächte Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten die multinationalen Verbände in Mitteleuropa aufzulösen und stattdessen kleinere, selbstständige Nationalstaaten zu bilden. Die Territorien dieser Nationalstaaten wurden, dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprechend, nach dem Kriterium der ethnischen Mehrheit festgelegt. In der Konferenz von Versailles wurde dem Deutschen Reich die Schuld für den Ersten Weltkrieg zugeschrieben und es hatte kein Mitspracherecht bei den Verhandlungen. Zusätzlich konnte man Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Niederlage nicht ansehen: Das Land war nicht sehr zerstört und verfügte immer noch über viele Ressourcen. Alle diese Umstände führten dazu, dass das deutsche Volk seine Niederlage nicht akzeptierte[3].

3. Die „Blutende Grenze“
Nach dem Versailler Vertrag verlor Deutschland mehrere Teile seines Territoriums zugunsten Frankreichs, Belgiens, Dänemarks, der Tschechoslowakei und Polens. Besonders die deutsch-polnische Grenze verursachte viel Aufruhr, zumal Deutschland dadurch wichtige wirtschaftliche und industrielle Zentren in Teilen von Oberschlesien, Westpreußen und der Provinz Posen verlor. Deshalb wurde die deutsch-polnische Grenze von den Deutschen „Blutende Grenze“ genannt. Der Hass gegenüber dem polnischen „Saisonstaat“ zeigte sich in der Protestaktion „Brennende Grenzen“, in der die Deutschen große Feuer entlang der Grenze entfachten. Diese endeten zwar in den 30er Jahren, jedoch mündete das revisionistische Gedankengut in der Ideologie und Ostpolitik der NSDAP[4].
Abbildung 1. Propagandistische Karte „Deutschlands Verstümmelung”, nach: Braun, Franz; Ziegfeld, Arnold Hillen; Geopolitischer Geschichtsatlas, Dresden, 1930.

„Das Territorium des Landes hatte eine sehr unregelmäßige Form und daher eine lange (5.534 km) und ungünstig geformte Grenzlinie, die meist infolge kleinerer oder größerer Konflikte mit Nachbarn entstand und daher nicht freundlich war.“[6] Nach vielen Verhandlungen über die polnische östliche Grenze mit den Nachbarstaaten, wurde sie erst 1922 endgültig festgelegt. Zu dieser Zeit lebten in diesem Gebiet ca. 27,2 Mio. Einwohner, von denen ca. 19 Mio. ethnische Polen waren[7].
4. Territorium Polens und die östliche Grenze
Auch in Polen war der Verlauf der Grenze umstritten. Polen erlangte nach 123 Jahren Besatzung durch seine Nachbarländer Österreich, Russland und Preußen seine Unabhängigkeit. Dennoch wurden einige Gebiete, die vor den Teilungen des Staates Polen angehörten, laut Versailler Vertrag der Sowjetunion zugewiesen. Der Verlauf der östlichen Grenze Polens wurde nach dem ethnischen Kriterium vorgeschlagen, entlang der Flüsse Bug und San (sogenannten Curzon-Linie)[5]. In Folge des polnisch-sowjetischen Kriegs 1919 – 1921 eroberte Polen weitere Gebiete. Der Friedensvertrag von Riga, mit dem dieser Krieg endete, legte die polnisch-sowjetische Grenze etwa 250 km östlich der Curzon-Linie fest.
Abbildung 2. Grenzverläufe Polens zwischen 1918 und 1947

5. Zweiter Weltkrieg
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 begann die Aufrüstung für den Krieg. Hitlers Vision für die Erweiterung des sogenannten „Lebensraums im Osten“ brachte die gerade mal 20 Jahre alte deutsch-polnische Grenze in Gefahr. Am 23. August 1939 wurde der Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) geschlossen (sogenannt Molotow-Ribbentrop-Pakt oder Hitler-Stalin-Pakt)[8]. Dies war eine der vielen Vorbereitungen für den Einmarsch der deutschen Armee in Polen am 1. September 1939 und für den Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Die zweite Polnische Republik hatte während ihrer kurzen Existenz bereits manche Kriege geführt und die Nazis waren mit ihrer modernen Armee dem polnischen Heer sehr überlegen. Die Verteidigung des polnischen Staates brach bereits nach ein paar Tagen zusammen[9]. Auch die UdSSR fand Gefallen an der schwachen Lage Polens: Sie informierten in der Nacht zum 17. September 1939 den polnischen Botschafter in Moskau, dass die UdSSR die Zweite Polnische Republik für nicht existent hielt. Gleichzeitig überschritt die sowjetische Armee die östliche Grenze Polens[10]. Sie hatten keine großen Schwierigkeiten gegen die Polen zu kämpfen, zumal einige polnische Anführer glaubten, von den Sowjets Unterstützung im Kampf gegen die Deutschen zu bekommen. Der Deutsch-Sowjetische-Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 etablierte eine Grenze, die mehr oder weniger der Curzon-Linie entsprechend verlief[11]. Die Gebiete östlich dieser Grenze wurden Teil der Ukrainischen, Weißrussischen und Litauischen Sozialistischen Sowjetrepubliken. Mit einem Strich eines blauen Buntstifts wurde das Schicksal von Millionen bestimmt. Jedoch brachen die Deutschen den Vertrag schon zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, mit der Offensive „Unternehmen Barbarossa“, welche die Erweiterung des „Lebensraums im Osten“ bringen sollte[12].
Abbildung 3. Karte zum zweiten Molotow-Ribbentrop-Pakt, 28.09.1939

In der Zwischenzeit wurde in Moskau von polnischen Kommunisten eine neue Organisation namens Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego - PKWN) gegründet, die behauptete, die polnische Bevölkerung zu repräsentieren. Dies traf nicht zu: In den Parlamentswahlen vor dem Krieg hatten die kommunistischen Parteien nie mehr als 4% der Stimmen erreicht, weil sie radikal gegen das Staatskonzept und die katholische Kirche waren. Trotzdem wollte Stalin, dass diese Kommunisten eine neue „Regierung“ in Polen gründen, um Kontrolle über den polnischen Staat zu erlangen. PKWN ernannte sich am 22. Juli 1944 im sogenannten Lubliner Manifest als vorübergehende Regierung des polnischen Volkes[16], war aber in Polen nicht weit bekannt und hatte kein Rückhalt in der Bevölkerung. Auf der internationalen Ebene erkannte es nur die UdSSR an. In der Zwischenzeit, im September 1944, Monate vor der Konferenz in Jalta, gab es Beschlüsse des PKWNs mit den sowjetischen Republiken Ukraine, Weißrussland und Litauen über den Austausch der jeweiligen Bevölkerung, um sie zu homogenisieren[17]. Dies zeigte, wie sicher Stalin war, seine eigenen Ziele bezüglich der Grenzverläufe umsetzen zu können. Die Konkurrenz zwischen der Exilregierung und der kommunistischen Provisorischen Regierung der Republik Polen (Rząd Tymczasowy Rzeczypospolitej Polskiej - RTRP), der Nachfolgerin des PKWNs, erschwerte es Polen über eigene Interessen zu entscheiden.
Die Grenzverschiebung wurde konkretisiert in der Jalta-Konferenz vom 4. bis 11. Februar 1945 mit denselben Teilnehmern[18]. Stalin war es besonders wichtig eine Entscheidung bezüglich der seit 1939 besetzten polnischen Gebiete zu treffen. Auch hier vergewisserten Churchill und Roosevelt den sowjetischen Diktator, dass die Grenze entlang der Curzon-Linie verlaufen würde. Polen sollte als Entschädigung die nordost- und ost-deutschen Gebiete bekommen. Dafür schlug Stalin die Oder-Neiße-Grenze vor, jedoch lehnten die Alliierten den Vorschlag zu diesem Zeitpunkt ab.
Schon hier betonte Stalin die Kriegsverluste für die Sowjetunion und forderte ein Teil Polens als Entschädigung. Die Alliierten stimmten zu, dass die Ostgrenze Polens entlang der Curzon-Linie verlaufen sollte. Churchill sagte: „Polen könnte sich nach Westen verlagern, wie Soldaten die seitlich abtreten. Falls Polen dabei auf einige deutsche Zehen trete, könne man das nicht ändern...“[13]. Anstatt eines blauen Buntstifts benutzte Churchill 3 Zündhölzer, um den neuen Verlauf der polnisch-sowjetischen Grenze zu zeigen. Bezüglich der deutsch-polnischen Grenze wurde lediglich eine Westverschiebung vereinbart, einen konkreten Beschluss über den Grenzverlauf gab es noch nicht[14].
Die ehemalige polnische Regierung war seit 1939 im Exil in London und konnte so keinen direkten Einfluss auf das Geschehen im Land haben. Als sie aber verstand, dass Lwów (Lemberg) und Wilno (Vilnius) für Polen wahrscheinlich verloren sein würden, meldete sie Ansprüche auf die Großstädte Breslau und Stettin als Entschädigung an[15].
6. Verhandlungen über die Grenzverläufe während des Krieges
Schon während des laufenden Krieges überlegten viele über die künftige Teilung Mitteleuropas. Die ersten Vereinbarungen zum Verlauf der neuen Grenzen wurden von Stalin, Churchill und Roosevelt in der Teheran-Konferenz getroffen, welche zwischen dem 28. November und 1. Dezember 1943 stattfand.
Abbildung 4. Lubliner Manifest, Moskau 1944

7. Kriegsende und Potsdamer-Konferenz
Nach der endgültigen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945, trafen sich die Siegermächte, um die Nachkriegsordnung zu beschließen und endgültige Grenzen festzulegen. Die Potsdamer-Konferenz dauerte vom 17. Juli bis 2. August 1945. Die Teilnehmer waren Stalin, der neue amerikanische Präsident Truman sowie Churchill, wobei der englische Premierminister nach der verlorenen Wahl in Großbritannien am 28. Juli von Clement Attlee abgelöst wurde. Bezüglich der Grenzen: Der von Stalin vorgegebene Verlauf der Ostgrenze Polens entlang der Curzon-Linie war schon von den Alliierten akzeptiert worden. Nun lag der Fokus auf der deutsch-polnischen Grenze. Die Vertreter des besiegten Deutschlands durften sich zum Verlauf der Grenze nicht äußern. Obwohl die Polen zu den siegreichen Alliierten gehörten, hatten sie bei den Entscheidungen über die eigenen Grenzen auch kein Mitspracherecht. Nur die prosowjetische Provisorische Regierung der Nationalen Einheit (Tymczasowy Rząd Jedności Narodowej – TRJN) wurde zu der Konferenz eingeladen. Das Ziel Stalins war, die kommunistische Volksrepublik Polen von der Siegermacht Sowjetunion abhängig zu machen und diese in einen Satellitenstaat umzuwandeln. Dafür musste er zunächst für die Unterstützung für die kommunistische Regierung im polnischen Volk sorgen. Die territorialen Konzessionen, die er zugunsten Polens verhandelt hatte, schenkten einerseits der kommunistischen Regierung mehr politisches Kapital, andererseits sorgten sie für dauerhafte Konflikte mit den Deutschen und Abwendung Polens der westlichen Staaten[19].
Schlussendlich akzeptierten Truman und Attlee den sowjetischen Vorschlag des Grenzverlaufs entlang der Oder-Neiße-Linie. Deutschland verlor praktisch einen Teil seines Territoriums (Schlesien, Pommern, Teile der Neumark und Ostpreußen, insgesamt 101000 km2) aber auch Polen musste seine Gebiete östlich der Curzon-Linie (insgesamt fast 180000 km2) der Sowjetunion überlassen. Trotz der neu angeschlossenen Gebiete verlor Polen mehr Land, als es neu bekam[20]. Dieser vorgeschlagene Grenzverlauf sollte in einer Friedensvereinbarung endgültig festgelegt werden, was jedoch erst Dekaden später passierte[21]. Was die Lage zusätzlich verkomplizierte, war die Formulierung, dass bis zu einer endgültigen Entscheidung die Territorien östlich der Oder-Neiße-Grenze „durch den polnischen Staat verwaltet“ werden sollten (im Gegensatz zu „dem polnischen Staat gehören“)[22]. Dies öffnete die Büchse der Pandora, die erst fast ein halbes Jahrhundert später geschlossen werden würde. Obwohl wenig darüber gesprochen wurde, waren sich die Alliierten einig, dass für eine langanhaltende Sicherheit und Stabilität in Mitteleuropa die nationale Homogenität innerhalb der vereinbarten Staatsgrenzen gewährleistet werden müsste. Praktisch bedeutete dies, dass mehrere Millionen Menschen zwangsumgesiedelt werden müssten.
Noch während der Konferenz in Potsdam wurde am 5. Juni 1945 der sogenannte Alliierte Kontrollrat gegründet. Dieser bestand aus den Oberbefehlshabern der drei Siegermächte und Frankreich, die zugleich die jeweiligen Besatzungszonen verwalteten[23]. Dieser Rat übernahm strategische Aufgaben, die bundesweit wichtig waren. Er nahm somit teilweise die Rolle einer Bundesregierung an, die den Deutschen in der Potsdamer Konferenz für die ersten paar Jahre nach dem Krieg untersagt worden war. Zu seinen Aufgaben, die er sich selbst zuteilte, gehörten die Behausung, die Landwirtschaft, der Transport, aber auch das Problem der sogenannten Displaced Persons (Flüchtlinge und Vertriebene). Zu diesem Zweck veröffentlichte dieser am 20. November 1945 einen Plan für die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung aus Österreich, der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen in die vier Besatzungszonen Deutschlands (Plan for the Transfer of the German Population To Be Moved From Austria, Czechoslovakia, Hungary and Poland Into the Four Occupied Zones of Germany)[24]. Dieser Plan, auf knapp zweieinhalb getippten Seiten, bestimmte das Schicksal mehrerer Millionen Menschen in Mitteleuropa.
Abbildung 5. Plan für den Transfer der deutschen Bevölkerung, 20.11.1945

8. Niemals-Grenze
„Das große Tabu“, „Niemals-Grenze“[25], „Heißes Eisen“ - so bezeichnete die westdeutsche Presse die deutsch-polnische Grenze, deren genaue Regelung auf der Potsdamer Konferenz auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Erst 1949 wurden zwei deutsche Staaten geschaffen: die Bundesrepublik Deutschland (BRD), die aus der britischen, französischen und amerikanischen Besatzungszone bestand und unter Kontrolle der Alliierten blieb, und die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die von den Sowjets kontrolliert wurde. Im Osten wurde das Thema der Umsiedlung in der Öffentlichkeit nicht angesprochen. Die Bezeichnungen davon waren meist neutral, wie „Umsiedlung“ oder „Evakuierung“. „Die Behörden nannten die Betroffenen nun auch ehemalige Umsiedler oder Neubürger, forderten das Verschwinden des Umsiedler Begriffs und postulierten, daß die Integration der Ankömmlinge abgeschlossen sei.“[26] Im Westen wurde zunächst der Begriff „Flüchtling“ verwendet. Ab Anfang der 50er Jahre tauchte in der Öffentlichkeit die Bezeichnung „Vertriebener“ auf, die im Vertriebenengesetz vom 19. Mai 1953 formal definiert wurde[27].
Im November 1989 fiel die Berliner Mauer. Der polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl nahmen an einem Versöhnungsgottesdienst in Krzyżowa (Kreisau) teil[38]. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 erkannte Helmut Kohl die Oder-Neiße-Grenze an, wenngleich zähneknirschend wie die polnische Autorin Karolina Kuszyk schrieb[39].
Am 1. November 1993 trat der Vertrag von Maastricht in Kraft, mit welchem die Europäische Union gegründet wurde. Deutschland war ein Gründungsmitglied, während Polen erst am 21. Mai 2004 beitrat. Am 21. Dezember 2007 trat Polen auch den Schengenraum bei, was zur Aufhebung der Grenzkontrolle zwischen Polen und Deutschland führte.
Fünf Jahre später nannte die Stadt Trier den Vertriebenen Brunnen in Heimatbrunnen um und es wurde neben ihm eine Tafel angebracht mit der erklärenden Aufschrift: „Dieser Brunnen ist ein Zeugnis seiner Entstehungszeit, dem Jahre 1965. Heute, nach fast 70 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, über 40 Jahren seit den Ostverträgen und über 20 Jahren seit dem Ende des »Eisernen Vorhangs«, leben wir friedlich und ausgesöhnt zusammen im vereinigten Europa. Als gute Nachbarn erinnern wir uns unserer gemeinsamen und wechselhaften Geschichte, die uns in unserer tiefen gegenseitigen Verbundenheit in Freundschaft und Frieden Tag für Tag bestärkt – Trier im Jahre 2012, der Oberbürgermeister der Stadt Trier.“ Somit wurde die Zeit der „Niemals-Grenze“ auch in Trier symbolisch beendet.
Abbildung 6. Niemals Oder-Neisse-Linie, Wahlplakat CDU NRW, 1947
Abbildung 7. Plakat des Ordens Freiheit für Schlesien, 1959
Abbildung 8. Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki bei der Kreisauer Versöhnungsmesse, 12.11.1989
Der Westen Deutschlands war ausgesprochen gegen die Oder-Neiße-Grenze, dagegen sprach man im Osten aufgrund des sowjetischen Drucks nicht über dieses Thema.
Zur selben Zeit in Polen waren Viele ängstlich und unsicher, dass die Grenze mit dem im Potsdam definierten Verlauf nicht bleiben würde. Diese Ungewissheit verstärkte die kommunistische Macht in Polen auf der Grundlage des Bündnisses mit der UdSSR, die die Sicherheit der Westgrenze garantieren sollte[28], genauso, wie Stalin es geplant hatte.
1950 unterzeichnete der polnische Premierminister, Józef Cyrankiewicz, und der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, den sogenannten Görlitzer Vertrag, in dem die Grenze an der Oder und der Lausitzer Neiße als „Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen“ beschrieben wurde[29]. Dieser wurde von der BRD nicht anerkannt, die westdeutschen Behörden betonten, dass die so genannten deutsche Vertreibungsgebiete (Ost- /Westpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien) nur vorübergehend unter Polens Verwaltung standen.
Ab Sommer 1948 konnten die Vertriebenenverbände in Westdeutschland, die ursprünglich nur auf kommunaler Ebene tätig waren, sich überregional zusammenschließen und öffentlich wirksam auftreten. Ein Beispiel sind die Deutschlandtreffen der Schlesier in Köln oder Hannover mit dem Spruch „Freiheit für Schlesien“. Solche Verbände kritisierten die Grenze deutlich und verlangten die verlorenen Gebiete zurück, welches das Abschließen der Grenzvereinbarung verhinderte.
Auch in Trier waren diese Ideen zu sehen: 1965 wurde neben dem Rathaus der Vertriebenenbrunnen errichtet mit der Inschrift „Einigkeit und Recht und Freiheit. Breslau, Gleiwitz, Stettin, Königsberg, Eger, Marienburg“. Die Ausschreibung des Stadtrats aus den frühen 60ern lautete: „Es soll die Menschen im freien Westen eindringlich ermahnen, das von Rumpfdeutschland durch das Alliiertenabkommen von Potsdam im Jahre 1945 fremden Verwaltungen unterstellte Mittel- und Ostdeutschland und die seitdem in Unfreiheit lebenden Brüder und Schwestern nicht zu vergessen. Es soll empor reißen aus dieser Resignation und den Glauben an die Wiedervereinigung aller Teile des getrennten Deutschlands beleben und stärken.“[30] Mit diesem Gedankengut wurden auch die Straßen in den Stadtteilen Heiligkreuz und Ehrang benannt: Breslauer Straße, Memelstraße, Ostpreußenstraße, Sudetenstraße und Pommernstraße (der Name Schlesienstraße in Stadtteil Ehrang wurde schon 1954 vergeben)[31]. Knapp 10.000 Vertriebenen in den Jahren 1945–1946 fanden als Flüchtlinge in Trier eine neue Heimat[32].
Am 1. Oktober 1965 veröffentlichte die Deutsche Evangelische Kirche die sogenannte Ostdenkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, in der sie die deutschen Behörden aufforderte, die polnisch-deutsche Grenze anzuerkennen. Einer der Unterzeichner dieses Aufrufs war der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Es kam zur einer „Zäsur in der Meinungsentwicklung[33]“ im Volk der BRD, da vorher nur die Meinung der Verbände, die die Schrift stark bekämpften, gehört wurde. Ein Monat darauf, im November, reagierten die polnischen Bischöfe mit ihrer berühmten Versöhnungsbotschaft an die deutschen Amtsbrüder. 20 Jahre nach dem Krieg schrieben sie: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung“[34]. Einer der Unterstützer war der damalige Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II. Aufgrund der großen Resonanz im Lande unternahm die kommunistische Partei in Polen antikatholische und antiwestliche Propagandamaßnahmen, um den Brief zu diskreditieren. Die Antwort der deutschen katholischen Bischöfe vom Dezember war sehr diplomatisch und zurückhaltend[35]. Die Politik hingegen war schon progressiver und es kam am 7. Dezember 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags über die Grundlagen normalisierter Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland[36]. Dieser kannte die Oder-Neiße-Grenze an, jedoch unter Vorbehalt einer späteren Änderung. An den Tagen der Unterzeichnung in Warschau kniete der Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Ghettos.
Im Gegensatz zur Willy Brandts Ostpolitik waren die konservativen Bundesgerichte der BRD immer noch stets der Meinung, dass die an Polen abgegebenen Gebiete rechtmäßig Deutschland gehörten. Klaus Ullmann, der Präsident des Vereins Haus Schlesien von 1983 bis 1993, veröffentlichte Anfang der 80er Jahre sein „Schlesien-Lexikon für alle, die Schlesien lieben“, in dem er über die Gerichtsurteile der Prozesse Anfang der 70er Jahre schrieb. „Rechtlich ist Schlesien auch nach Abschluss der sogenannten Ostverträge Teil des Deutschen Reiches. Ein Friedensvertrag, der die deutsch-polnische Grenze regelt, ist bisher nicht geschlossen. Dies wird auch durch mehrere Urteile der obersten deutschen Gerichte bestätigt. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.7.1973 existiert das Deutsche Reich fort. Im gleichen Sinne äußern sich Beschlüsse vom 7.7.1975 sowie vom 31.5. und 29.12.1976. Auch nach einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.9.1976 sind die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete nicht Ausland geworden.“[37]
[1] Unser Text basiert auf folgenden Standardwerken: Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München, 2014; Winkler, Heinrich, Długa droga na Zachód (Tom 2): Dzieje Niemiec 1933 - 1990, Wrocław, 2007; Brzoza, Czesław; Sowa Andrzej Leon, Wielka Historia Polski. Tom V. Polska w czasach niepodległości i II wojny światowej (1918-1945). Od Drugiej do Trzeciej Rzeczypospolitej (1945-2001), Warszawa, 2003; Sienkiewicz, Witold; Hryciuk, Grzegorz (hg.), Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung 1939-1959. Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas, Bonn, 2010.
[2] Judt, Tony, Powojnie: Historia Europy od roku 1945, Poznań, 2008, S. 42-43.
[3] Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München, 2014, S. 189 u. f.
[4] Rada, Uwe; Jajeśniak-Quast, Dagmara, „Die „blutende Grenze“. Der Kampf um die „Ostmark“ blieb bis zum Ende der Weimarer Republik ein Thema deutscher Nationalisten“, Taz, 25.11.2018 https://taz.de/Deutschland-und-Polen-nach-1918/!5546704/#:~:text=Der%20Kampf%20um%20die%20%E2%80%9EOstmark,Republik%20ein%20Thema%20deutscher%20Nationalisten.&text=S%20o%20wurde%20er%20sonst,der%20Stadt%20empfing%20ihn%20enthusiastisch., Zugang 19.01.2024.
[5] Die Linie wurde im Juli 1920 nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon benannt.
[6] Brzoza, Czesław; Sowa Andrzej Leon, Wielka Historia Polski. Tom V. Polska w czasach niepodległości i II wojny światowej (1918-1945). Od Drugiej do Trzeciej Rzeczypospolitej (1945-2001), Warszawa, 2003, S. 42.
[7] Brzoza, Czesław; Sowa Andrzej Leon, Wielka Historia Polski. Tom V. Polska w czasach niepodległości i II wojny światowej (1918-1945). Od Drugiej do Trzeciej Rzeczypospolitej (1945-2001), Warszawa, 2003, S. 44.
[8] Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München, 2014, S. 391.
[9] Zgórniak, Marian (Hg.), Wielka Historia Świata (Tom 11): Wielkie Wojny XX wieku (1914-1945), Kraków, 2006, S. 488.
[10] Zgórniak, Marian (Hg.), Wielka Historia Świata (Tom 11): Wielkie Wojny XX wieku (1914-1945), Kraków, 2006, S. 490.
[11] Recke, Michael; Remmers, Michael; Roeder, Corinna, Fakten oder Fantasie? Karten erzählen Geschichten! Ausstellung vom 4. Mai bis 1. Juli 2017 in der Landesbibliothek Oldenburg, Oldenburg, 2017, S. 112-113.
[12] Zgórniak, Marian (Hg.), Wielka Historia Świata (Tom 11): Wielkie Wojny XX wieku (1914-1945), Kraków, 2006, S. 606 u. f.
[13] Lowe, Keith, Savage Continent. Europe in the Aftermath of World War II, Falkirk, 2013, S. 230.
[14] Ther, Philipp, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/ DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen, 1998, S. 38.
[15] Ther, Philipp, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/ DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen, 1998, S. 39.
[16] Manifest PKWN, 21.07.1944, Moskau, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3b/PKWN_Manifest.jpg.
[17] Ciesielski, Stanisław, Przesiedlenie ludności Polskiej z Kresów Wschodnich do Polski 1944-1947, Warszawa, 1999, S. 55; Hryciuk, Grzegorz, Przesiedleńcy. Wielka Epopeja Polaków, 1944-1946, Kraków, 2024, S. 123 u. f.
[18] Heise, Volker, 1945, Berlin, 2024, S. 99.
[19] Kalicki, Włodzimierz, Ostatni jeniec Wielkiej Wojny: Polacy i Niemcy po 1945 roku, Warszawa, 2002, S.82; Brzoza, Czesław; Sowa Andrzej Leon, Wielka Historia Polski. Tom V. Polska w czasach niepodległości i II wojny światowej (1918-1945). Od Drugiej do Trzeciej Rzeczypospolitej (1945-2001), Warszawa, 2003, S. 429.
[20] Będkowski, Leszek (Hg.), Z Kresów na Kresy. Wielkie Przesiedlenie Polaków.” Pomocnik historyczny Polityki” nr. 4, Warszawa, 2016, S. 7.
[21] Benz, Wolfgang; Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München, 1994, S. 113.
[22] Report On The Tripartite Conference In Berlin, 1945 (Potsdam Conference), Library of Congress Digital Collections, https://maint.loc.gov/law/help/us-treaties/bevans/m-ust000003-1224.pdf, Zugang 20.01.2025.
[23] Enactments And Approved Papers of the Control Council, Vol. 1, Library of Congress Digital Collections, https://tile.loc.gov/storage-services/service/ll/llmlp/61035888_Volume-I/61035888_Volume-I.pdf, S. 44, Zugang 21.10.2024.
[24] Enactments And Approved Papers of the Control Council, Vol. 1, Library of Congress Digital Collections, https://tile.loc.gov/storage-services/service/ll/llmlp/61035888_Volume-I/61035888_Volume-I.pdf, S. 199-201, Zugang 21.10.2024.
[25] Oder-Neiße-Grenze, https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/oder-neisse-grenze, Zugang 07.01.2025.
[26] Ther, Philipp, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/ DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen, 1998, S. 92.
[27] Ther, Philipp, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/ DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen, 1998, S. 95.
[28] Das kann man auf der digitalen Ausstellung „Polen Bewegen“ („Przesuwanie Polski“) nachlesen https://artsandculture.google.com/story/hwXRR1PfIhIA8A?hl=pl, Zugang 06.01.2025.
[29] Lawaty, Andreas; Orłowski, Hubert (Hg.) , Polacy i Niemcy: historia, kultura, polityka, Poznań, 2008, S. 222.
[30] Heimatbrunnen Trier, https://public-art-trier.de/objekt/heimatbrunnen/, Zugang 07.01.2025.
[31] Zenz, Emil (Hg.), Die Straßennamen der Stadt Trier, Trier, 2006.
[32] Heimatbrunnen Trier, https://public-art-trier.de/objekt/heimatbrunnen/, Zugang 07.01.2025.
[33] Bender, Peter, Die 'Neue Ostpolitik' und ihre Folgen - Vom Mauerbau bis zur Wiedervereinigung, München, 1995, S. 124.
[34] Kucharski, Wojciech (Hg.), Wrocław 1945-2016. Ausstellung im Zentrum für Geschichte "Depot", Wrocław, 2016, S. 225.
[35] Winkler, Heinrich, Długa droga na Zachód (Tom 2): Dzieje Niemiec 1933 - 1990, Wrocław, 2007, S. 235.
[36] Winkler, Heinrich, Długa droga na Zachód (Tom 2): Dzieje Niemiec 1933 - 1990, Wrocław, 2007, S. 286.
[37] Ullman, Klaus, Schlesien-Lexikon, Mannheim, 1982, S. 18.
[38] Lawaty, Andreas; Orłowski, Hubert (Hg.) , Polacy i Niemcy: historia, kultura, polityka, Poznań, 2008, S. 113.
[39] Kuszyk, Karolina, In den Häusern der Anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin, 2022, S. 120.