
Perspektivenvergleich und Epilog
Die Vertreibungsgeschichte im Vergleich

1. Die Schuldfrage
Am 3. Juni 2018 besuchten wir im Alter von acht und zehn Jahren das Anne-Frank-Haus in Amsterdam. Unsere Eltern erzählen uns heute, dass wir uns am Anfang des Besuchs nur auf Deutsch unterhielten. Je weiter wir in der Ausstellung waren und je mehr wir über die Taten der Deutschen lasen, desto mehr fingen wir an auf Polnisch zu sprechen, was zu dieser Zeit selten passierte. Schon als Grundschulkinder fühlten wir damals, wie beschämend dieser Abschnitt der deutschen Geschichte für uns war, hatten aber die Möglichkeit, uns von dieser Scham zu distanzieren.
Die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen, hatten diese Möglichkeit nicht. „In den Augen der Welt hatten sich »die Deutschen« durch Kriegsverbrechen und Völkermord längst zu Tätern gemacht. Sie hatten sich aus der Zivilisation verabschiedet, aus dem Kreis der Nationen, in denen die Menschenrechte galten. Das Maß, in dem sie sich als Volk desavouiert hatten, war nur den ausgewanderten Deutschen klar. Im Inland war auch den NS-Gegnern, die sich für das Regime geschämt hatten, nicht deutlich, wie tief sie in den Augen der Welt gefallen waren.“[1] Ohne dieses Bewusstsein konnten sie auch nicht verstehen, dass Alles, was ihnen nach dem Krieg passierte, aus der Sicht der Nicht-Deutschen als eine verdiente Strafe für ihre Verbrechen als Volk angesehen wurde. Stattdessen fokussierten sich viele Deutsche auf ihr eigenes Leid. Dieses fehlende Verständnis prägte die Auseinandersetzung mit den Umsiedlungen, was bis heute noch zu sehen ist.
Abbildung 1. Wir beide mit unserer Mutter vor dem Anne Frank Denkmal in Amsterdam, 2018

2. Ähnlichkeiten und Unterschiede der Umsiedlungen
Als wir unsere Recherche begannen, fiel uns auf, dass obwohl die Gründe und Folgen der Umsiedlung der Polen und Deutschen unterschiedlich waren, der eigentliche Verlauf überraschend ähnlich war. Beide Völker verloren ihre jahrhundertelange Heimat. Sie mussten ihre Städte, Dörfer, Familiengräber und alles, was ihren Herzen nahe lag, hinterlassen. Wir konnten keine einzige Erinnerung finden, die diese Zeit nicht als schmerzhaft beschrieb.
Für beide Völker war der Verlauf der Umsiedlung schwer, die Schwierigkeiten lagen jedoch meistens an der Enormität des Ereignisses in Verbindung mit den vom Krieg verursachten Zerstörungen. Es gab einfach nicht genug Passagierwagons oder kurzfristige Unterkünfte auf dem Weg. Gleise und Brücken waren zerstört, sodass sich die Reisen verkomplizierten und verlängerten. Dies galt allerdings für Polen als auch Deutsche. Sicherlich schwieriger war es für die Deutschen, da sie sich nicht aussuchen durften, wohin sie fuhren. Sie wurden durchgängig bewacht, von Punkt zu Punkt gefahren und mussten sich der Befehle der Behörden unterstellen. Die Polen wurden zwar auch von anderen hin und her geschickt, jedoch genossen sie mehr persönliche Freiheiten während der Reise. Davon war das Wichtigste, die freie Entscheidung über den Ausstiegsort, die die meisten besaßen. Die Deutschen bemängeln in ihren Erinnerungen oft die Umstände des Transports, jedoch war dies zu dieser Zeit die Norm. Die Schätzungen gehen weit auseinander, jedoch gab es nur in Deutschland nach dem Krieg ca. 40 Mio. Displaced Persons, unter anderem die Umgesiedelten[2]. Alle diese Menschen mussten irgendwohin transportiert werden, welches die Probleme mit den Transportmitteln vervielfachte.
Die größten Unterschiede in den Erinnerungen an die Umsiedlung zeigten sich nach der Ankunft: Die einheimischen Deutschen mussten ihr Land mit den Ankömmlingen aus den Ostgebieten teilen. Auch die Ressourcen, die nach dem Krieg sowieso extrem knapp waren, konnten sie nicht nur für sich behalten. Die kulturellen und religiösen Unterschiede führten zu Konflikten und schufen eine Grundlage zur Diskriminierung der Umgesiedelten. Die Vertriebenen wurden verstreut, teils aus ökonomischen Gründen, teils um Anspannungen innerhalb des Staates zu verhindern. Diese Aufteilung sollte außerdem die Integrierung der Ostdeutschen beschleunigen.
Im Gegensatz dazu konnten die polnischen „Repatrianten“ zusammenbleiben und ihre vorherigen sozialen Kreise wenigstens zum Teil behalten. Zu den „Wiedergewonnen Gebieten“ kamen nicht nur Umgesiedelte, sondern auch freiwillige Siedler aus Zentralpolen. Alle Menschen waren in den Regionen neu und fremd, sodass niemand auf Andere herabschauen konnte. Jeder konnte dort sein Leben neugestalten.
Was die Polen und die Deutschen, die später in der DDR wohnhaft waren, von den Westdeutschen unterschied, war die komplett fremde kommunistische Wirklichkeit. In den beiden Ländern gab es Marionettenregierungen, die bei den Bürgern nicht besonders beliebt waren, jedoch die Macht der UdSSR hinter sich hatten. Die Gehorsamkeit des Volks musste daher durch politische Unterdrückung und einen ausgebauten Sicherheitsdienst erzwungen werden. Der Kommunismus war stark anti-religiös und brach mit vielen Traditionen, welches im Kontext der Umsiedlung bedeutete, dass öffentlich von vielen Facetten des Lebens in der alten Heimat nicht gesprochen werden durfte.

3. Unterschiede in den Erinnerungskultur
Unter der kommunistischen Regierung wurde die Erinnerungskultur insbesondere durch die Art geprägt, wie man von der Zwangsumsiedlung sprach, beziehungsweise schwieg. Der Begriff „Vertreibung“ durfte in der DDR nicht verwendet werden, da dieser implizierte, dass man die von Stalin beschlossene Grenzverschiebung hinterfragte. So sprach man von „Neubürgern“ und „Evakuierung“, um dem Prozess neutral zu schildern. Es war verboten Vertriebenenverbände zu gründen und in der Öffentlichkeit wurde an die Vertreibung nicht erinnert[3]. Schon 1949 betonte Wilhelm Pieck, der Vorsitzende der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die Verständigung und das Zusammenleben mit dem Nachbarland Polen. Die Oder-Neiße-Grenze sollte eine Friedensgrenze sein[4]. Die privaten Ansichten wurden jedoch selten überliefert. „Da es nicht möglich war, in der DDR frei seine Meinung zu äußern, können wir uns keine Vorstellung darüber machen, wie sich die Bevölkerung an die Vertreibung erinnerte.“[5]
In der BRD hingegen war das Thema stets präsent im öffentlichen Raum, ständig gefördert durch die Heimatverbände der Vertriebenen. Ab den 60er Jahren fing die westdeutsche Öffentlichkeit an sich von den revanchistischen Ideen der Verbände zu distanzieren und eine Friedenspolitik mit Polen anzustreben. Trotzdem spielten die Vertriebenenverbände noch Dekaden später in der politischen Szene eine wichtige Rolle.
Nach dem Fall der Mauer verblasste die Erinnerungskultur bundesweit nach und nach. Mit der Zeit gab es immer weniger Menschen, die die Vertreibung selbst erlebten[6]. Dies war die einzige Generation, die die negativen Aspekte der Zwangsumsiedlung mit der warmen Nostalgie aus der Heimat ausgleichen konnten. Die darauffolgenden Generationen konnotierten das Thema hauptsächlich mit der Scham des von den Deutschen verlorenen Krieges und den Erzählungen der „kalten Heimat“. Diese Abwendung führte zum allmählichen Verschwinden des Themas aus der Öffentlichkeit. „Eine im Dezember 2002 vom Bonner Haus der Geschichte durchgeführte aufschlussreiche Untersuchung hat gezeigt, dass nur 10 Prozent der Befragten die Zahl der Vertriebenen korrekt zwischen 10 und 20 Millionen einordnen konnte; bei denen unter 30 Jahren waren es nur 4 Prozent. Die meisten Befragten schätzten die Zahl viel zu niedrig, entweder unter 5 oder zwischen 5 und 10 Millionen, der Durchschnitt lag bei 5,6 Millionen statt bei der tatsächlichen Zahl von 12–14 Millionen. Weniger als zwei von fünf Personen konnten Schlesien, eines der Hauptvertreibungsgebiete, auch nur annäherungsweise auf einer Karte finden – ein geringerer Anteil als die Zahl der Personen, die bei einer früheren Befragung Äthiopien lokalisieren konnten“[7].
Im Gegensatz zum verklingenden deutschen Diskurs beginnt in Westpolen eine neue Welle der Recherchen zu diesem Thema. Die Umstände der polnischen Zwangsumsiedlungen waren im Allgemeinen etwas weniger belastend als die der Deutschen, wie oben verglichen. Unter dem kommunistischen Regime war es unerwünscht von den Erfahrungen der Umsiedlung öffentlich zu sprechen. Stattdessen stand das Wiederaufbauen des Lebens in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ im Vordergrund. Der ersten und zweiten Generation war es zusätzlich untersagt, über die deutschen Hinterlassenschaften zu sprechen, die sie umgaben. In ihrem Buch „In den Häusern der Anderen“ schrieb die polnische Autorin Karolina Kuszyk von der „Erfahrung in einer nie ganz als eigene empfundene Landschaft zu leben, die mit dem Gefühl verknüpft war, dass die Geschichte meiner Stadt und ihres Umlands ein schambehaftetes Geheimnis in sich barg“[8]. Diese Erfahrungen teilten viele Nachkommen der Zwangsumsiedler in Schlesien. Das Bedürfnis diese Geheimnisse zu lüften erweckte jedoch ein Interesse an der deutschen Vergangenheit in den Ostgebieten. Seit den 90er Jahren diskutiert man in Polen immer mehr darüber. Eine andere polnische Autorin, die heute selbst in Schlesien wohnt, ist die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Sie schrieb: „Menschen, mit denen man sich einen Wohnraum teilt, (auch zu anderen Zeiten), werden zu mehr als Vorgängern - sie werden Nachbarn in der Zeit. Es bildet sich eine Art Gemeinschaft, manchmal vielleicht sogar widerwillig, die aber nicht verleugnet oder einfach aufgehoben werden kann.“[9] Während in Deutschland die Geschichte der Vertreibungen allmählich vergessen wird, wächst die auf den deutschen Hinterlassenschaften basierende Erinnerungskultur in Westpolen mit jedem Jahrzehnt.

4. Epilog
Ab dem Anfang des 21. Jahrhunderts macht sich in Polen eine politische Grenze sichtbar: Das Land teilt sich in West und Ost, wenn es um europäische Zusammenarbeit geht. Der Westen stimmt überwiegend für pro-europäische und liberale Parteien, während der Osten hauptsächlich nationalistisch und konservativ wählt. Das ist kein Zufall: Die Bevölkerung, die sich auf den polnischen Nord- und Westgebieten ansiedelte, hatte durch die deutschen Hinterlassenschaften mehr Bezug zu Deutschland und den Westen Europas. Als die Deutschen ihre alte Heimat wieder besuchen konnten und dort auf Polen trafen, lernten sie sich gegenseitig besser kennen. Heute erkennen Polen und Deutsche zusammen, wie wichtig es ist das Kulturerbe der ehemaligen Ostgebiete zu behalten und fühlen sich dafür gemeinsam verantwortlich.
Die Geschichte der Vertreibungen darf nicht vergessen werden, egal wie beschämend oder unangenehm sie auch sein mag. Die Ursachen der Zwangsumsiedlungen als auch deren Verlauf sind ein wichtiges Kapitel der Vergangenheit Mitteleuropas. In Zeiten, in denen die Politik immer weiter ins Extreme geht und mittels Manipulation von historischen Fakten die Gesellschaft zu polarisieren versucht, ist es besonders wichtig die Geschichte nicht nur seines eigenen Landes, sondern auch dessen Nachbarn zu kennen. Wie das Beispiel Westpolens zeigt: Wo es gegenseitiges Interesse an der Kultur und Geschichte gibt, entsteht ein friedliches Miteinander oder sogar Freundschaft.
Nach dem Horror des zweiten Weltkriegs wurde im Gründungsvertrag der Vereinten Nationen das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen etabliert[10]. Zum ersten Mal in seiner Geschichte konnte Europa fast 70 Jahre ununterbrochenen Frieden genießen, bis Russland gegen die obengenannte Vereinbarung verstieß, erst 2014 mit der Einnahme der Krim und dann 2022 mit dem vollen Angriff gegen die Ukraine. Zu Beginn kooperierte Europa mit den USA, um die Ukraine zu unterstützen, dies änderte sich jedoch als Donald Trump die Präsidentenwahl 2024 gewann. Am 18. Februar 2025 trafen sich die Außenminister Russlands und der USA in Riad, um über das Ende des Krieges zu verhandeln. Auf diese Konferenz wurden weder Vertreter der Ukraine noch anderer europäischer Staaten eingeladen, was zu Unruhe in der EU-Politik führte. Dies erinnerte uns an die Konferenzen in Teheran 1943 und in Jalta 1945, an denen ebenfalls die machtvollsten, aber nicht unbedingt die direkt betroffenen Staaten teilnahmen, mit dem wesentlichen Unterschied, dass in Riad mit dem Aggressor verhandelt wurde. Obwohl die Konsequenzen noch nicht abzuschätzen sind, ist es besorgniserregend, dass das Recht der Stärkeren wieder in der internationalen Politik entscheidend wird.
[1] Jähner, Harald, Wolfszeit: Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955, Bonn, 2020, S. 234.
[2] Jähner, Harald, Wolfszeit: Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955, Bonn, 2020, S. 61.
[3] Hahn, Eva; Hahn, Hans Henning, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn, 2010, S. 583.
[4] Hahn, Eva; Hahn, Hans Henning, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn, 2010, S. 571.
[5] Hahn, Eva; Hahn, Hans Henning, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn, 2010, S. 574.
[6] Der Bund der Vertriebenen war bis in die 2000 Jahre eine mächtige Organisation, sehr prominent in der politischen Szene. Am 31. Dezember 2023 waren 36 Mitglieder registriert, ausschließlich juristische Personen, Personengesellschaften oder sonstige Organisationen, Registereintrag des BdV (Bund der Vertriebenen - Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände e.V.), https://www.lobbyregister.bundestag.de/suche/R002159, Zugang 27.01.2025.
[7] Douglas, Raymond M., 'Ordnungsgemäße Überführung': Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München, 2012, S. 13.
[8] Kuszyk, Karolina, In den Häusern der anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen, Berlin, 2022, S. 12.
[9] Tokarczuk, Olga, Bezimienny krajobraz, in: Pankiewicz, Agata; Przybyłko, Marcin (hg.), nieswojość, Wrocław, 2019, S. 178.
[10] Siehe Artikel 2.4. der Charta der Vereinten Nationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Kapitel_I_der_Charta_der_Vereinten_Nationen, Zugang 22.02.2025.